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Samstag, 30. Juli 2011

Sieben Stunden ohne

Sieben Stunden ohne Schlaf, ausgesessen auf harten Kirchenbänken – das war das Opfer, das die Besucher der Orgelnacht in der Nikolaikirche bringen mussten. Eintritt hingegen mussten sie nicht zahlen. (Die Orgelnacht fand von Donnerstag auf Freitag zur Einstimmung auf das internationale Orgelfestival statt. Nachdem mich am Freitag dann doch die große Müdigkeit einholte, erst heute der Bericht …)

Gedauert hat die Orgelnacht von 21.59 Uhr bis 4.59 Uhr, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Die Menschen in Tallinn sind, wenn es um Kultur geht, erstaunlich nimmermüde. Noch nie bin ich so oft so spätabends zu irgendwelchen Veranstaltungen aufgebrochen wie in diesem Sommer. Kino auf dem Parkhausdach ab 23.30 Uhr, Schattentheater um Mitternacht – das ist hier (auch wegen der Lichtverhältnisse) ganz normal.

In jeder der sieben Stunden gab es zuerst eine halbe Stunde Orgelkonzert und anschließend eine kunstgeschichtliche Führung, zuerst zur Architektur der Kirche, dann zum Hochaltar, dann zum Totentanz … Leider waren die Führungen auf Estnisch, so konnte ich nur die Leidenschaft der Kunsthistoriker und die Aufmerksamkeit der Zuhörer bestaunen. Aber dafür wirklich staunen! Dass sich nachts um drei mehrere Dutzend Menschen einen Vortrag über Wappenepitaphe anhören, finde ich bemerkenswert.

Was ich erwartet hätte: Dass die Besucher der Orgelnacht mit heißen Getränken und Knabbereien verwöhnt werden, dass es sich irgendein Catering-Service nicht nehmen lässt, zu später Stunde noch etwas zu verdienen. Falsch gedacht. Hier geht es nicht um das ganz besondere Event, Leute treffen, mal wieder ein bisschen Kultur mitbekommen … Hier geht es um die Musik. Punkt. Und um die Kunst. Basta. (Schon über das Literaturfestival schrieb ich: „Als Verpflegung gab es Piroggen, Säfte und Bier.“ Und meinte: „Kein Sekt und keine Häppchen.“)

Und was die Musik betrifft: Wunderschön war die für mich noch ungehörte Kombination von Saxophon und Orgel. Hier passt wohl Blechbläser zu Blechbläser … Besonders das Stück „Palve“ von einer Komponistin namens G. Grigorjeva (1962) gefiel mir. Keine Ahnung, wer das ist, aber die Musik war großartig. Ganz, ganz helle, silberne, erhebende Töne …


P.S. Die Nikolaikirche habe ich aus meinem Fenster aufgenommen.

Dienstag, 12. Juli 2011

Prinzessinnen

Bei einer Führung durch den Dom habe ich Toomas Mäeväli kennengelernt. Er ist Orgelbauer und macht jeden Freitagnachmittag eine Runde durch die Stadt, um die Kirchenorgeln zu prüfen und gegebenenfalls zu stimmen. Neulich habe ich ihn begleitet und so viel Interessantes über die Orgeln in Tallinn und Estland erfahren.


Die Besonderheit der Orgellandschaft in Estland ist, dass so viele romantische Orgeln aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert im Originalzustand erhalten sind. In Deutschland sind diese kaum noch zu finden, da dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts die so genannte Orgelbewegung einsetzte. Sie versuchte, die Orgeln in den barocken Zustand zurückzuversetzen. Das war gut gemeint aber übereifrig, denn oft waren fragwürdige Kompromisslösungen das Ergebnis. Estland hat die Orgelbewegung nicht erreicht und bald darauf führte der Sowjetstaat mit seiner atheistischen Ideologie zu einem Quasi-Stillstand im Kirchenleben und damit auch im Orgelbau. Und als dieser nach 1991 beendet war, warteten die romantischen Orgeln gewissermaßen wie vergessene Prinzessinnen auf ihre Entdecker.

Was eine romantische Orgel ausmacht? Sie versucht, ein ganzes Orchester zu imitieren und dessen verschiedene Klangfarben möglichst ohne Brüche zu vermischen. Die Beschriftung der Knöpfe am Spieltisch liest sich wie die Besetzung eines Orchesters: Oboe, Horn, Klarinette, Trompete … Besonders beliebt waren bei romantischen Orgelbauern Pfeifenreihen, die wie Streicher und Flöten klingen.


In gutem Zustand ist die Domorgel, die 1998 von der Orgelwerkstatt Christian Scheffler aus Sieversdorf bei Frankfurt/Oder renoviert wurde. Alle 73 Register mit insgesamt 4500 Pfeifen funktionieren. Sie trägt die Handschrift von gleich zwei berühmten deutschen Orgelbauern. Zunächst wurde sie mit 48 Registern vom Weißenfelser Orgelmeister Friedrich Ladegast gebaut und 1878 eingeweiht. 1913 beschloss die Kirchengemeinde, die Orgel moderner zu gestalten, und ließ sie von Wilhelm Sauer aus Frankfurt/Oder erweitern. Der größte Teil der Pfeifen von Ladegast und der Prospekt – also das, was die Kirchenbesucher von der Orgel sehen – wurden aber beibehalten, so dass das Instrument heute sozusagen eine Best-of-Mischung, eine Ladegast-Sauer-Orgel ist.

Die Orgel in der Olaikirche ist weniger gut erhalten, nicht alle Register sind spielbar. Doch auch sie entfaltet einen Zauber, wie es nur die Königin der Musikinstrumente vermag. Zusammen mit Toomas Mäeväli bin ich in der Orgel herum geklettert. Ja, geklettert, denn was nach außen hin so schön silbern oder golden glänzt, ähnelt im Innern eher einem staubigen Speicher. Kleine Holzstiegen führen zu den verschiedenen Registern, den Reihen von unterschiedlich großen Pfeifen aus Holz oder Metall. Und als ich also vorsichtig die Orgel erkundete und zwischen den größten Pfeifen hindurch einen luftigen Blick hinunter in den Kirchenraum erhaschte, begann eine Probe mit der Organistin und einigen Sängern. Das Holz knarrte, die Blasebälge schnauften und die Pfeifen nebenan hoben zum Singen an und das war sehr, sehr feierlich.


Ein Tipp für alle baldigen und potentiellen Tallinn-Besucher: Jeden Samstag um zwölf gibt es im Dom ein halbstündiges Orgelkonzert. Diese "Orelipooltund", wörtlich "Orgelhalbestunde", kostet keinen Eintritt. Gerade jetzt im Sommer konzertieren häufig auch Organisten aus dem Ausland - denn die sind ganz heiß darauf, mal auf einer echten romantischen Orgel zu spielen.