Donnerstag, 11. August 2011

Was die Tauben tun


Aufgenommen beim Morgenspaziergang auf dem Domberg. Siebenundzwanzig Tauben saßen auf einem Dach. Die einen sechs flogen weg. Die anderen sechs flogen weg. Die einen sechs kamen wieder. Die anderen sechs kamen wieder. Da sitzen sie alle siebenundzwanzig wieder. (Oder so ähnlich.)

Mittwoch, 10. August 2011

Ein Tag Pärnu

Die Städte in Estland sind miteinander verwoben und erfüllen oft ganz spezifische Funktionen. Tartu ist, habe ich im Juni gelernt, die Stadt des Geistes und der Ideen. Pärnu ist die Stadt der Muße und der Erholung, man nennt sie die Sommerhauptstadt.

Am Wochenende hat mich ein Sonntagsausflug dorthin geführt. Die Sommerhauptstadt ist natürlich viel kleiner als die echte. Beschaulicher, bunter und über und über mit Jugendstilblüten berankt. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die erste Badeanstalt gegründet und so etablierte sich die Stadt als Kurort im russischen Zarenreich und erlebte einen echten Hochbetrieb schließlich in den 1930er Jahren, als eine Schiffsverbindung über die Ostsee eingerichtet wurde. An diese glanzvollen Tage erinnert die Villa Ammende, die der Kaufmann Hermann Ammende 1904 errichten ließ, um dort die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.


Mein Andenken an Pärnu ist eine Musik, ich muss kurz ausholen, um zu erzählen, welche:

Neulich habe ich einen anderen Sonntagnachmittag in einem Café in der Lai-Straße verbracht, wo man auf verschnörkelten Holzstühlen sitzt und von Spitzendeckchen Schokoladenkuchen isst. Meine Lektüre war das ebenfalls etwas altmodische Buch „Liebe Renata“, in dem die jungen Mädchen ständig mit rosigen Wangen Walzer und Mazurka tanzen. Und die CD im Hintergrund spielte – fast schon zu passend – heitere Salonmusik dazu.

In Pärnu sitzt vor dem Kursaal ein Mann auf einer Mauer und spielt Akkordeon. Die Musik kommt aus einem Lautsprecher, der in einer Hecke versteckt ist. Für einen Moment kann ich sehen, wie die Sommergäste im Kursaal tanzen, wie die Herren den Damen ihren Arm anbieten, wie diese lächelnd nicken, leichtfüßig den Takt aufnehmen, sich drehen lassen, bis ihnen schwindlig wird. Oh, wie Renata solche Abende liebte! Da ist sie wieder, die Melodie, die mich neulich im Café begleitet hat.


Froh über diese Entdeckung frage ich ein älteres Ehepaar, das auf einer Parkbank sitzt, was das für Musik sei. Die beiden schauen mich verwundert an: Da müsse ich die Leute fragen, die diese Party organisieren. Ein paar hundert Meter weiter ist eine Open-Air-Bühne aufgebaut und zum Soundcheck testet man gerade die Bässe. Die Weise, die leise aus der Hecke tönt, hat das Ehepaar überhört.

Zum Glück habe ich den entscheidenden Hinweis auch ohne das Ehepaar entdeckt, es ist der Name des Mannes mit dem Akkordeon: Raimond Valgre. Der wurde 1913 geboren und starb 1949. Dazwischen, in den 1930er Jahren, füllte er die Salons und ließ die Menschen tanzen – unter anderem zum Saaremaa-Walzer (Saaremaa valss).

Montag, 8. August 2011

Straßen

Ich male mir aus, dass die Leser, die gerade nicht in Tallinn sind, oder sogar noch nie hier waren, sich, wenn sie meinen Blog lesen, eine Vorstellung von der Stadt machen können. In den letzten Wochen habe ich von einigen Menschen berichtet, Geschichten erzählt, die Aufmerksamkeit auf Details gelenkt, sogar auf Mülleimer. Nun ist mir aufgefallen, dass für das Bild im Kopf noch etwas Wichtiges fehlt: Der Blick in die Straßen.

Man denke sich deshalb zum kugelrunden Kopfsteinpflaster zum Beispiel solche Fassaden dazu:






Fast zufällig sind alle Bilder Hochformate. Weil der Vergleich mit Paris gerade im Raum steht, würde ich also sagen: Paris ist, Eiffelturm hin oder her, eine horizontale Stadt, die ihren Prunk auf der ganzen Breitseite präsentiert. Tallinn ist eine vertikale Stadt, schlanker, in ihrer Eleganz nach oben strebend. Tallinn, das ist zum Beispiel die Silhouette mit den Kirchtürmen, das sind gotische Fassaden und hohe alte Lindenbäume. Paris, das sind Paläste, Brücken, die sich über die ganze Seine erstrecken, weite Alleen akkurat gestutzter Bäume im Park.

Ich muss aufpassen, dass etwas nicht deshalb unerzählt bleibt, weil es mir allzu vertraut geworden ist. Doch auch dann werde ich niemals alle Facetten dieser Stadt in meinen Blog packen können. Ich komme mir vor wie eine Schmetterlingsfängerin, die buntschillernden flüchtigen Momenten hinterher läuft und sie alle in ihr Netz stopfen will. Aber es gelingt ihr nicht. Wenn sie links zwei erhascht, fliegen rechts drei davon. Vielleicht waren sie nie mehr gesehen.

Über meinem Schreibtisch hängt eine Liste, auf der ich vermerkt habe, worüber ich noch schreiben möchte. Zum Beispiel über andere Stadtteile als die Altstadt und Kalamaja. „Immer nur Altstadt“ – das habe ich neulich über die Auswahl auf den Postkartenständern gesagt. „Immer wieder Altstadt“ – das gilt für meine hier veröffentlichten Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen, unabhängig von der Liste über dem Schreibtisch. Denn hier wohne ich und hier sind die Spuren der schon vor einiger Zeit vergangenen Vergangenheit, nach denen ich suche, besonders gut zu finden.

Noch hat die Schmetterlingsfängerin fast zwei Monate Zeit.

Samstag, 6. August 2011

Ankündigung: Zwei Interviews

Nun, da ich drei Monate da bin, interessieren sich auch die Journalisten in Tallinn für die Stadtschreiberin. Deshalb gibt es heute gleich zwei Interviews mit mir, eins in der Zeitung und eins im Radio. Die Zeitungsleser werden auf der Literaturseite des Eesti Päevaleht fündig, dort beantworte ich ein paar Fragen zum Blog. Abrufen kann man den Artikel auch unter www.epl.ee. Und wer von 13 Uhr bis 14 Uhr die Sendung „Publikumärk“ auf Radio Kuku anhört, kann mittendrin erfahren, was ich im estnischen Kulturleben so entdecke. Wer nicht in Estland wohnt (aber Estnisch versteht), kann natürlich im Netz mithören: www.kuku.ee.

Freitag, 5. August 2011

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail – Folge 3

Ganz viel von Tallinn steckt im Detail. Obwohl gar nicht so beabsichtigt, oft sehr nett anzuschauen. Für mich ist das „Zufallskunst“, die Grenzen zur Streetart sind mitunter fließend. Aber hier muss man sich wirklich nicht mehr fragen: Was will der Künstler uns damit sagen? Denn der Künstler hat (wahrscheinlich) keine Kunst im Sinn gehabt.

Er war eine Hausfrau.


Er war ein Trafostationsisolatorenbemaler.


Er hat Kiek in de Kök besichtigt.


Er war ein Mitarbeiter der Straßenmeisterei.


Er hatte vom Joggen die Schnauze voll.

Mittwoch, 3. August 2011

Apothekengeheimnisse

Rein, kurz gucken, raus. Die wenigsten Touristen, die in die Tallinner Ratsapotheke strömen, haben Kopfschmerzen oder Blasen an den Füßen. Die meisten wollen die älteste Apotheke Europas sehen. Zwar beanspruchen diesen Titel noch ein paar andere Einrichtungen, zum Beispiel in Florenz und Dubrovnik, doch der Besucherfrequenz tut dies keinen Abbruch. Und eine der ältesten Apotheken in Europa ist die Raeapteek ganz gewiss.

Das genaue Gründungsdatum der Apotheke ist unbekannt, doch aus einem alten Notizbuch der Stadtverwaltung geht hervor, dass sie im Jahr 1422 bereits den dritten Besitzer hatte. Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatte die Apotheke sieben Tage die Woche rund um die Uhr geöffnet, um die medizinische Versorgung der Stadt sicherzustellen. Zusätzlich erfüllte sie die Funktion eines Cafés. Hier trafen sich Ratsherren und Kaufleute und bekamen süßen Klarett (einen Würzwein) gereicht – dass der Apotheker dafür nichts verlangen durfte, war vertraglich festgesetzt. Im Pfarrhof der Heiliggeistkirche, hinter der Apotheke, wurden Heilpflanzen gezüchtet, ein weiterer üppiger Apothekergarten lag vor den Stadtmauern, zuerst beim Harju-Tor, dann beim Nunne-Tor.

In der längsten Zeit ihres Bestehens lag das Schicksal der Apotheke in den Händen einer Familie – der Familie Burchart. Im Jahr 1580 kam Johann Burchart Belavary de Sykava aus Ungarn nach Reval und pachtete die Apotheke. Als er sich zur Ruhe setzte, übergab er sie seinem Sohn und so ging es über zehn Generationen hinweg immer weiter, und immer hieß der nächste Apotheker Johann. Und auch wenn der eine Johann den Laden besser zu führen verstand als der andere, hielten die Männer doch von 1582 bis 1911 den Ruhm der Familie hoch. Sie studierten an den angesehensten Universitäten Europas, in Petersburg, Tartu, Lübeck, Halle und Stockholm, und nahmen ihr Wissen und neue Rezepturen mit in ihre Heimatstadt.

Wer mag, kann die Geschichte der Apotheke in den Chroniken nachvollziehen, die im hinteren Raum auf einer Truhe liegen. Er kann an der Holzdecke die fast verblassten Bemalungen bewundern, die noch aus dem Mittelalter stammen, und in Gläsern die Heilmittel von einst – zum Beispiel sonnengebleichten Hundekot. Und am alten Ofen sind Kräutersträußchen zum Trocknen aufgehängt: Weidenröschen, Johanniskraut, Schafgarbe, Thymian, Kamille ...


Dass diese Pflanzen an die alte Kunst des Apothekerhandwerks erinnern, ist Silja Pihelgas zu verdanken. Vor ein paar Jahren haben die Betreiber der Apotheke beschlossen, dass es schön wäre, wenn die Geschichte des Ortes nicht in Vergessenheit gerät und zusammen mit der Stadt ein kleines Projekt auf die Beine gestellt und in die Obhut von Silja übergeben. Seitdem sorgt sie dafür, dass ein bisschen was von der Atmosphäre, die die Apotheke in all den Jahrhunderten ausmachte, noch heute zu spüren ist. Über eine schmale Holztreppe nimmt mich Silja mit, hinunter in den Keller.

Was den Burcharts wohl gefallen hätte, diese Frage hatte Silja immer im Hinterkopf, als sie die Räume der Apotheke umgestaltete und einrichtete. Und so entstand im Keller nach und nach ein Refugium, in dem noch manche Schätze zu entdecken sind. Regelmäßig führt Silja Schulklassen und andere Gruppen dorthin. Dann dürfen die Kinder Apotheke spielen, Rezepte schreiben, Heilkräuter im Mörser zerstoßen. Aus den Regalen lassen sich dicke vergilbte Bücher hervorziehen, zum Beispiel die Ausgaben der Pharmaceutischen Centralhalle für Deutschland. Die älteste von ihnen stammt aus dem Jahr 1866 und in Deutschland wäre solch ein alter Schinken längst hinter einer Vitrine verschwunden. Hier steht er einfach so herum.


Aus dem Garten eines alten Herrenhauses bringt Silja immer wieder Kräuter mit und als ich da bin, stellt sie mit einem Destillierapparat eine Essenz aus Mädesüß her. Tropfen um Tropfen sammelt sich im Glasröhrchen und ab und an gießt Silja dessen Inhalt in ein Fläschchen. Unlängst wurde entdeckt, dass Mädesüß Wirkstoffe enthält, die gut gegen Falten sind. Nun ist die Pflanze mit dem lateinischen Namen Filipendula ulmaria auf dem Kosmetikmarkt hoch gefragt und ihre Essenz wird teuer bezahlt. Im Keller der Ratsapotheke geht es darum nicht. Hier wird einfach der Geist des Sommers und ein bisschen auch der Geist der Vergangenheit eingefangen. Es riecht nach Blumen und Heu.

Dienstag, 2. August 2011

Immer nur Altstadt


Aufgenommen an irgendeinem Postkartenstand an irgendeiner Straßenecke. Wenn man fünf Monate in einer Stadt lebt, kommt es vor, dass man manchen Menschen mehr als nur eine Ansichtskarte schickt. Ich tue mich mit der Motivwahl für die dritte und vierte Karte schwer. Das kennt Oma doch alles schon!